
40 Jahre deutsche Biotechnologie: abwechslungsreiche Vergangenheit, rosige Zukunft?
Gastautor Dr. Michael H. Thiel, Kooperationspartner bei der Sanemus AG München, blickt auf das Auf und Ab der Firmengeschichten in der deutschen Biotechnologie-Szene. Ausschnitte aus der langen Wegstrecke von 40 Jahren zeigen, wie viel sich in diesem Industriesektor getan hat – und dass dies womöglich erst der Anfang gewesen ist.
Die Biotechnologie hat mit der Produktion von Insulin auf Basis gentechnisch veränderter Organismen in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Einzug in die Pharmaindustrie gehalten. Den Durchbruch im Arzneimittelmarkt schaffte sie dann im Jahr 1998 mit der Einführung des ersten monoklonalen Antikörpers Rituximab zur Therapie des Non-Hodgkin-Lymphoms.
Heute sind Biopharmazeutika aus dem deutschen Arzneimittelmarkt nicht mehr wegzudenken: 2024 hatten sie mit 21,4 Mrd. Euro einen Umsatzanteil von 34,5 Prozent am gesamten deutschen Pharmamarkt, 64 Prozent (= 38 Arzneimittel) der 2024 neu zugelassenen Arzneimittel in Deutschland waren Biopharmazeutika. Ausgangspunkt der meisten Biopharmazeutika waren und sind Start-ups als Ausgründungen von Universitätsinstituten oder Forschungsgemeinschaften, die die Entwicklung von neuen Wirkstoffen bis Ende der präklinischen Phase oder in den ersten klinischen Phasen mithilfe von privaten beziehungsweise öffentlichen Investoren und Venture Capital vorantreiben. In diesem Beitrag soll die Entwicklung der Biotech-Start-ups in Deutschland, deren heutige Rolle und aktuelle Trends untersucht werden.
Entwicklung der Start-ups: Euphorie in den 90er-Jahren
Ab Mitte der 1970er-Jahre begannen in den USA Forscher aus universitären Laboren damit, sich mit eigenen Unternehmen selbständig zu machen, um neue Moleküle und Plattformtechnologien für medikamentöse Therapien zu entwickeln. Das Geld für diese Biotechnologie Start-ups (die im Weiteren als Start-ups bezeichnet werden) steuerten die Gründer, Bekannte und die ersten Venture Capital Fonds bei. Die Ära der Start-ups in der Biotechnologie hatte begonnen. Große Pharmafirmen realisierten schnell, dass diese Start-ups mit dazu beitragen konnten, das eigene Pipeline-Dilemma zu lösen. Die jungen Unternehmen wurden somit zur „verlängerten Werkbank“ von Big Pharma.
Angezogen von den wesentlich besseren Forschungsbedingungen und den größeren Forschungsbudgets in den USA, verließen damals viele deutsche Spitzenwissenschaftler aus dem klinischen und pharmazeutischen Umfeld das Land in Richtung USA. Die deutsche Politik realisierte diesen „brain drain“ mit großem Schrecken und versuchte, ab Mitte der 90er-Jahre mit umfangreichen Förderprogrammen und dem BioRegio-Wettbewerb, der zur Ausbildung der Biotech-Spitzen-Cluster in München, Heidelberg und dem Rheinland führte, die Attraktivität für die Gründung von Start-ups in Deutschland zu verbessern. Erschwerend für den Forschungsstandort Deutschland kam in jener Zeit die von den Grünen initiierte Diskussion über „unkalkulierbare“ Risiken der aufkommenden Bio- und Gentechnologie hinzu. Erinnert sei hier exemplarisch an die endlose Diskussion um die Genehmigung der Insulinproduktion im Stammwerk Frankfurt der – damals noch existierenden – Hoechst AG.
Noch vor einem richtiggehenden Startschuss für die deutsche Biotechnologie fand die Gründung des späteren Diagnostika-Unternehmens Qiagen im Jahre 1984 statt. Es wurde mit einer innovativen DNA-Aufreinigungstechnologie und entsprechenden Kits zu einem unverzichtbaren Anbieter für die explosionsartig in die Molekularbiologie hineinwachsenden Forschungslabore und brachte aus Düsseldorf heraus eine erste erfolgreiche Biotechnologie-Globalisierung zuwege. Angestoßen aus den USA, gab es in den 1990er-Jahren auch in Deutschland eine zunächst sporadische, mit dem BioRegio-Wettbewerb auf einzelne Clusterregionen konzentrierte Start-up-Gründungswelle.
Im Report „Biotechnologie in Deutschland – 25 Jahre Unternehmensgründungen“ des BMBF aus dem Jahr 2010 werden für den Zeitraum von 1987 bis 1999 33 Unternehmensgründungen aus dem Bereich der roten Biotechnologie aufgeführt. Fünf dieser Firmen sind heute noch operativ tätig, auch wenn sich ihr Business-Modell in der Zwischenzeit zum Teil stark gewandelt hat. Zu nennen sind Affimed, Biofrontera, CureVac (im Juni 2025 aufgekauft von BioNTech), Evotec und Pieris (im Dezember 2024 verschmolzen mit der Pavella Therapeutics Inc.). Viele der Unternehmen wagten damals den Sprung an das im Jahr 1997 geschaffene Börsensegment Neuer Markt an der Frankfurter Börse. Anders als in den USA, wo sich die meisten Start-ups von Anfang an auf die Wirkstoffentwicklung fokussierten mit dem Ziel der Vermarktung dieser Wirkstoffe in Form von zugelassenen Arzneimitteln, beschäftigten sich in Deutschland die ersten Start-ups vornehmlich mit der Entwicklung von Omics-Plattformtechnologien, wie Genomics, Proteomics etc. Dies tat jedoch dem Biotechnologie-Hype in Deutschland zu jener Zeit keinen Abbruch. Die ersten deutschen, auf den Bereich Life Sciences spezialisierten Venture Capital Fonds entstanden. Zu nennen sind der Techno Venture Management Fonds, etabliert im Jahr 1983, der 2012 in den TVM Capital Fonds überging, die Gründung von Earlybird Venture Capital im Jahr 1997, von Wellington Partners im Jahr 1998 oder des MIG-Fonds im Jahr 2004.
In der Hoffnung, mit den Erkenntnissen der Entschlüsselung des menschlichen Genoms von Craig Venter und unter Zuhilfenahme der geeigneten Plattformtechnologie den Schlüssel zur Therapie vieler, bis dato nicht therapierbarer Krankheiten zu finden, wurde Ende der 90er-Jahre reichlich unkritisch, vor allem von kleineren Fondsgesellschaften, Family Offices und Privatinvestoren, in alle Projekte investiert, auf denen „Biotechnologie“ stand. Das böse Erwachen kam mit dem Zusammenbruch des Neuen Marktes im März 2000 im Zuge der Internetblase – die Biotechnologie war eigentlich „nur“ ein Kollateralschaden. Es zeigte sich, dass ein Investment in ein Biotechnologieprojekt sehr viel fachliches Know-how voraussetzt, um die Erfolgsaussichten des Projekts realistisch beurteilen und eine fundierte Investmentempfehlung aussprechen zu können. Dem überwiegenden Teil der damaligen Investoren fehlte dieses Know-how. Die Folgen sind hinlänglich bekannt: Die Investoren wandten sich schlagartig von den Start-ups ab und investierten ihr Kapital lieber anderweitig. Von diesem „Schock“ hat sich die deutsche Biotechnologie bis heute nicht richtig erholt.
Start-ups nach dem Crash des Neuen Markts
Nach dem Crash des Neuen Marktes im März 2000 war die Finanzierungsmöglichkeit mittels eines Börsengangs für ein Biotech-Start-up in Deutschland für lange Zeit nicht realisierbar. Es dauerte bis 2005, da wagte sich die 4SC AG ins Prime Segment der Frankfurter Börse. Aber es gab weiterhin die Möglichkeit der Finanzierung mittels öffentlicher Fördertöpfe und öffentlicher Fonds. Der High-Tech Gründerfonds wurde 2005 als Konsortium aus Bundeswirtschaftsministerium, der Kreditanstalt für Wiederaufbau und deutschen Industrieunternehmen ins Leben gerufen. Der erste Fonds hatte immerhin ein Volumen von 270 Mio. Euro. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau war ebenfalls als Finanzier von Start-ups zusammen mit institutionellen VC-Fonds sehr aktiv.
Zwischen 2000 und 2009 gab es in Deutschland weitere 37 Neugründungen im Bereich der roten Biotechnologie. Von diesen ist heute nur noch Heidelberg Pharma übriggeblieben. Eines der wenigen Highlights aus Deutschland für diesen Zeitraum ist beispielsweise der Verkauf der U3 Pharma aus Martinsried an Daiichi Sankyo für 150 Mio. Euro im Jahr 2007, der den Grundstock für die erfolgreiche Entwicklung des ADC-Portfolios von Daiichi Sankyo bildete, oder die Jerini-Übernahme durch Shire im Jahre2008 (siehe Tab. 1). Erwähnt sei auch der Verkauf der Pharmaaktivitäten von BASF an Abbott Ende 2000. Im BASF-Pharma-Portfolio befand sich unter anderem der monoklonale Antikörper Adalimumab zur Therapie von Autoimmun-Erkrankungen, der unter dem Markennamen Humira im Jahr 2017 mit einem Umsatz von 18,9 Mrd. USD das weltweit meistverkaufte Arzneimittel wurde. Bei der Betrachtung der Tabelle 1 fällt auf, dass es bis 2025 dauerte, bis ein größeres deutsches Start-up von einem deutschen Biotech-/Pharmaunternehmen gekauft wurde. (siehe Tabelle 1 im ungekürzten Gesamtartikel als PDF)
Seit 2006 sind mit der Dievini-Holding und der Santo-Holding die Family Offices von Dietmar Hopp und den Brüdern Strüngmann als maßgebliche Investoren in deutsche Start-ups aktiv geworden. SAP-Mitbegründer Dietmar Hopp hält unter anderem Beteiligungen an CureVac (2025 aufgekauft durch BioNTech), Apogenix, LTS Lohmann Therapie Systeme, immatics und Heidelberg Pharma. Andreas und Thomas Strüngmann starteten nach dem Hexal-Verkauf an Sandoz im Jahr 2005 ihre Biotechnologie-Investments. Aus dem Santo-Portfolio erwarb Astellas 2016 die auf Immunonkologie spezialisierte Ganymed für 422 Mio. Euro, Baxter kaufte 2015 die auf Autoimmun-Erkrankungen spezialisierte SuppreMol für 200 Mio. Euro. AiCuris, ein Bayer-Spin-off im Santo-Portfolio, das Antiinfektiva entwickelt, erhielt 110 Mio. Euro von Merck & Co. für die Erteilung von Lizenzen an Entwicklungskandidaten. Das Flaggschiff der Santo-Beteiligungen ist sicherlich BioNTech aus Mainz, an der die Santo-Holding einen Anteil von 42% hält. Festzuhalten ist, dass die deutsche Biotechnologie ohne das beträchtliche finanzielle Engagement von Dietmar Hopp und den Brüdern Strüngmann keine führende Position in Westeuropa einnehmen würde.
Erholung ab dem Jahr 2005
Mit der Möglichkeit der Finanzierung über die Börse, sei es im Prime oder Scale Segment der Frankfurter Börse, der Gründung des High-Tech Gründerfonds und weiterer Regionalfonds wie Bayern Kapital oder NRW Bank, der Investments seitens der Dieveni- und Santo-Holding sowie weiterer Family Offices und Privatinvestoren erholte sich die deutsche Biotechnologie allmählich vom Crash des Neuen Marktes. Start-ups wurden aufgrund ihrer Entwicklung und Validierung von Plattformtechnologien in präklinischen und klinischen Studien immer begehrtere Kooperationspartner für die großen Pharma- und Biotech-Firmen. Über diese Auftrags- und Lizenzdeals hatten die deutschen Start-ups nun auch die Möglichkeit, sich weitere Finanzquellen zu erschließen. Evotec machte aus der Auftragsforschung für große Pharma- und Biotech-Firmen ihr Geschäftsmodell. Schaut man sich die Entwicklung der Start-ups im europäischen Ausland in diesem Zeitraum an, verlief die Entwicklung dort ähnlich wie in Deutschland.
Anders verlief die Entwicklung in den USA. Hier waren zu Beginn des Jahrtausends die ersten Start-ups in der Lage, eigene Produkte in attraktiven Indikationen wie Onkologie, Autoimmun-Erkrankungen oder Orphan Diseases auf den Markt zu bringen und die Vermarktung der Produkte selbst in die Hand zu nehmen. Firmen wie Genentech (heute Roche, Kauf 2009), Millenium (heute Takeda, Kauf 2008), Genzyme (heute Sanofi, Kauf 2011) oder MedImmune (heute AstraZeneca, Kauf 2007) entwickelten sich rasch zu „multimillion companies“, die dann für hohe Multiples an Big Pharma verkauft wurden. Darüber hinaus entstanden aus den Start-ups in den USA Biotech-Firmen wie Amgen, Gilead, Celgene (2019 von BMS gekauft) und weitere, die heute zu den 20 umsatzstärksten globalen Playern im Pharmamarkt gehören. An der NASDAQ hat sich ein eigenständiges Biotechnologie-Börsensegment gebildet. Stand April 2025 sind an der NASDAQ 263 Biotech-Unternehmen gelistet. Dort führten auch viele deutsche Start-ups aufgrund einer höheren Unternehmensbewertung als an den europäischen Börsen in den Jahren 2019–2021 erfolgreich ihren IPO durch. Stand April 2025 sind 8 deutsche Biotech-Firmen an der NASDAQ gelistet, von insgesamt 21 deutschen börsennotierten Biotech-Firmen.
Hype ab 2018
Lag das jährliche Finanzierungsvolumen der deutschen Start-ups bis Mitte der 2010er Jahre bei etwa 500 Mio. Euro pro Jahr (siehe Abb. 1 im ungekürzten Gesamtartikel als PDF), ging das Finanzierungsvolumen ab 2018 steil nach oben und erreichte im Jahr 2020 seinen vorläufigen Höhepunkt mit knapp 3 Mrd. Euro. Nach einem deutlichen – zum Teil Corona-bedingten – Rückgang in den Jahren 2022 und 2023 stieg das Finanzierungsvolumen 2024 wieder auf 1,9 Mrd. Euro an, wenn man dabei jedoch auch eine hohe Millionenanleihe von Qiagen als börsennotierte Firma in die kräftig gewachsene Säule bei „Follow-on“ berücksichtigen sollte. Mit der Pentixapharm Holding gab es im Jahr 2024 auch wieder einen Börsengang im Prime Standard der Frankfurter Börse, der – nach Aussage des Haupteigners – die gewollten, eher bescheidenen 20 Mio. Euro einbrachte. Der letzte Börsengang eines deutschen Start-ups an der Frankfurter Börse datiert aus dem Jahr 2016 war die BRAIN AG. Der heute präferierte Börsenplatz für Biotech-Firmen ist unbestritten die NASDAQ.
Glücksfall: BioNTech SE
Näher zu betrachten ist der kometenhafte Aufstieg der BioNTech SE aus Mainz, gegründet im Jahr 2008. Das deutsche Unternehmen hatte es 2020 mit Partner Pfizer als erste Firma weltweit geschafft, in elf Monaten einen Impfstoff gegen das SARS-COV2-Virus zu entwickeln, von MHRA, EMA und FDA zugelassen zu bekommen und den Impfstoff am 2.12.2020 in Großbritannien – als erstem Land weltweit – auf den Markt zu bringen. Comirnaty setzte seinen Siegeszug fort und wurde mit großem Abstand Marktführer im globalen COVID-19-Impfstoffmarkt.
Im Jahr 2022 wurde BioNTech mit einem Umsatz von 18,9 Mrd. Euro größtes deutsches Pharmaunternehmen, 2024 sank der Umsatz auf 2,8 Mrd. Euro. Grund war die global stark nachlassende Nachfrage nach Comirnaty. Der BioNTech-Börsenkurs kletterte im August 2021 bis auf 316 Euro. Am Stichtag 9. Mai 2025 war die BioNTech-Aktie 84,95 Euro wert und pendelt seither wieder um die 100 Euro-Marke. BioNTech hat eine sehr breite Entwicklungspipeline in der Onkologie. Zurzeit sind 20 Projekte in den klinischen Phasen II und III. Mit der Markteinführung des ersten Onkologie-Präparates aus dem BioNTech-Portfolio zur Therapie von Gebärmutterhalskrebs wird 2026 gerechnet. Dies dürfte den Aktienkurs wieder steigen lassen.
Für den Verfasser sind vier Gründe ausschlaggebend für den Erfolg von Comirnaty:
- Die BioNTech-Gründer, Prof. Ugur Sahin und seine Frau Özlem Türeci, und die ersten Investoren – Santo Holding und MIG Capital – haben seit der Gründung im Jahr 2008 an den Erfolg der mRNA-Plattformtechnologie geglaubt und bis 2015 150 Mio. Euro in die Entwicklung der Technologie investiert.
- Durch verschiedene Finanzierungsrunden und den Börsengang an die NASDAQ im Jahr 2019 war die BioNTech-Kasse zu Beginn des Jahres 2020 mit mehr als 600 Mio. Euro gut gefüllt.
- Nachdem am 12. Januar 2020 die genetische Sequenz des SARS-CoV2-Virus veröffentlicht wurde, war man sich bei BioNTech schnell im Klaren, dass man auf Basis der erprobten mRNA-Technologieplattform einen mRNA-Impfstoffkandidaten entwickeln kann. Das Projekt „Lightspeed“ wurde im Januar 2020 aus der Taufe gehoben, 400 der 1.500 BioNTech-Mitarbeiter arbeiteten daran.
- Mit Pfizer wurde am 17.3.2020 der globale Co-Development- und Vertriebspartner für Comirnaty vorgestellt.
Mit dem BioNTech-Erfolg rückte die deutsche Biotechnologie schlagartig ins globale Rampenlicht. Die Frage ist, wer aus dem Kreis der deutschen Start-ups die nächste BioNTech wird, beziehungsweise welche Voraussetzungen in Deutschland geschaffen werden müssen, damit sich die BioNTech-Erfolgsstory wiederholen kann.
Positive Entwicklung im Jahr 2024
Nachdem der Hype um BioNTech und den COVID-Impfstoffmarkt abgeklungen und die Corona-Schockstarre der Jahre 2021 und 2022 überwunden war, ist im deutschen Biotechnologie-Markt im Jahr 2024 eine Konsolidierung zu erkennen. Im Deutschen Biotechnologie-Report 2025 von EY werden für 2024 1.020 Firmen (+2%) mit 59.093 Mitarbeitern (-5%) und F&E-Ausgaben von 4,6 Mrd. Euro (+4%) ausgewiesen. Ein Wermutstropfen war der Umsatzeinbruch von 8% im Jahr 2024 auf 11 Mrd. Euro, geschuldet unter anderem dem weiterhin sinkenden Comirnaty-Umsatz. Das Finanzierungsvolumen wuchs 2024 wieder auf 1,9 Mrd. Euro (siehe Abb. 1). Beim 2024 eingeworbenen Venture Capital in Höhe von 898 Mio. Euro fallen die großen Finanzierungsrunden der ITM-Radiopharmazie mit 188 Mio. Euro, Catalym mit 138 Mio. Euro, Tubulis mit 128 Mio. Euro und der SciRhom mit 63 Mio. Euro ins Gewicht.
Diese vier Finanzierungsrunden – alle aus dem Großraum München – machen bereits 59% der VC-Finanzierungen im Jahr 2024 aus. Ähnlich verhält es sich bei näherer Betrachtung der Folgefinanzierungen im Jahr 2024 in Höhe von 999 Mio. Euro. Zu nennen sind die 453 Mio. Euro Wandelschuldverschreibung der Qiagen, die Public Offerings der Immatics in Höhe von 324 Mio. Euro, der Formycon in Höhe von 83 Mio. Euro und der Immunic in Höhe von 73 Mio. Euro. Die insgesamt fünf Finanzierungsrunden machen 93% der Follow-on-Finanzierungen im Jahr 2024 aus. Auch für die Frühphasen-Finanzierung der Start-ups gab es im Jahr 2024 gute Nachrichten. Das GO-Bio next-Förderprogramm des BMBF wurde im Sommer reaktiviert, der Frühphasen-Fonds Khan II gab im Februar 2025 das First Closing mit 51 Mio. Euro bekannt, angestrebt wird ein Fondsvolumen von 100 Mio. Euro.
Heute: Konsolidierung auf Firmenebene
Die positiven Zahlen aus dem Jahr 2024 dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Biotechnologie-Branche in Deutschland in einer Konsolidierungsphase befindet. Am 5. Februar 2024 wurde der Verkauf der MorphoSys AG – ‘Urgestein‘ und jahrelanges Flaggschiff der deutschen Biotechnologie, gegründet 1992 – an Novartis für 2,7 Mrd. Euro bekannt gegeben. Novartis war an der Entwicklung einer Fixkombination des MorphoSys-Wirkstoffs Pelabresib mit Ruxolitinib zur Erstlinientherapie der Myelofibrose interessiert, die das Barangebot von 68 Euro je MorphoSys Aktie rechtfertigten sollte. Die Freude über den auf währte bei Novartis jedoch nicht lange. Im Herbst 2024 wurde eine Sonderabschreibung in Höhe von 800 Mio. Euro auf den Kaufpreis verkündet und das Pelabresib-Programm eingestellt. Am 9. Januar 2025 erfolgte die Schließung der MorphoSys-Niederlassung in Planegg mit 300 Mitarbeitern.
Anfang 2024 geriet Evotec, ein weiteres Urgestein der deutschen Biotechnologie, in Schieflage. Der Aktienkurs stürzte im 1. Halbjahr 2024 um 75% ab. Derzeit befindet sich Evotec in einer Restrukturierung. Formycon musste im Februar 2025 eine Wertberichtigung auf das Generikageschäft in den USA vornehmen, da neue Biosimilar-Regeln der Trump-Administration bisherige Wertextrapolationen über den Haufen geworfen hatten. Daraufhin halbierte sich der Aktienkurs. Im April 2025 gab Immunic bekannt, dass der Primary Endpoint der Phase II-Studie nicht erreicht wurde. Auch hier gab der Aktienkurs daraufhin stark nach, auch wenn das Unternehmen die Zukunft des Wirkstoffes weiter positiv sieht, da dieser primäre Endpunkt „nicht die große Bedeutung“ gehabt hätte. Mit der Medigene, gegründet im Jahr 1994, musste ein weiteres Urgestein im April 2025 Insolvenz anmelden. CureVac wurde im Juni 2025 von BioNTech gekauft. Eine gute Nachricht für die deutsche Biotechnologie gab es im März 2024, als der Verkauf von Cardior Pharmaceuticals aus Hannover an Novo Nordisk für 1,025 Mrd. Euro bekannt gegeben wurde. Novo Nordisk möchte neben dem etablierten Diabete- und Adipositas-Geschäft ein weiteres Standbein im kardiovaskulären Bereich aufbauen. Die von Cardior entwickelte Non-coding-RNA-Plattformtechnologie scheint für Novo Nordisk den Kaufpreis von etwas über 1 Mrd. Euro für ein Projekt am Anfang der Phase II zu rechtfertigen. Das Tableau der börsennotierten deutschen Biotechnologiefirmen hat sich 2024/25 weiter gelichtet, die Firmenbewertungen haben zum Teil stark nachgegeben (siehe Tab. 2 im ungekürzten Gesamtartikel als PDF).
Herausforderungen für die Zukunft
Bevor die Herausforderungen der deutschen Biotechnologie dargestellt werden, lohnt sich der Blick auf die Assets:
- Hochmotivierte Wissenschaftler/Mediziner in exzellenten Universitäten und Forschungseinrichtungen
- Viele Gründungswillige im Life-Sciences-Bereich – gerade im Bereich Telemedizin, E-Health
- Umfangreiche Förderprogramme für Gründer, zum Beispiel EXIST, GO-Bio Initial, GO-Bio next
- Beteiligung des HTGF beziehungsweise der Fördergesellschaften der Länder wie BayernKapital, NRW Bank, NBank etc. auf Pari-passu-Basis an den Fundraising-Runden
- Etablierung von regionalen Inkubatoren für Life-Sciences-Start-ups, zum Beispiel BioM in München, BioCologne, BIO NRW, die den Start-ups Räumlichkeiten, Labore, Netzwerke, Coaching etc. anbieten
Ein großes Manko für den Biotechnologie-Standort Deutschland ist weiterhin das Fehlen von großen Venture Capital Fonds im Vergleich zu den westeuropäischen Nachbarn beziehungsweise den USA. In Tab. 3 (siehe im Gesamtartikel als PDF) sind die größten deutschen und europäischen Life-Sciences-VCs gegenübergestellt. Es fällt auf, dass die Fonds aus den Niederlanden und Frankreich um ein Vielfaches mehr „Capital under Management“ haben als die deutschen Fonds. TVM sollte man bei der Betrachtung ausklammern, da das meiste Geld in diesem Fonds aus Kanada und von E. Lilly kommt. Der vorherige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wollte im Jahr 2022 deutschen Versicherern und Pensionskassen den Zugang zur Anlageklasse Wagniskapital erleichtern. Doch statt wie in den Niederlanden oder Frankreich,diesen Kapitalsammelstellen den direkten Zugang zu VC-Fonds zu erleichtern, wurde in Deutschland ein anderer Weg beschritten. Am 22. November 2023 wurde der Wachstumsfonds Deutschland mit 1 Mrd. Euro als Fonds-in-Fonds aufgelegt, gemanagt von der KfW, woran sich die deutschen Kapitalsammelstellen beteiligen konnten. Der Investitionsschwerpunkt des Wachstumsfonds liegt auf deutschen und europäischen Venture Capital Fonds mit einem Fokus auf spätphasigen Projekten, der Sektor-Fokus liegt in den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologie, Life Sciences sowie Climate- und Food Tech. Welcher Weg der erfolgreichere ist, wird sich zeigen.
Apropos Politik. Bekundungen zur Stärkung des Biotechnologie-Standortes Deutschland gab es in der Vergangenheit viele, passiert ist wenig. Im jetzigen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD wird die deutsche Biotechnologie explizit als Spitzentechnologie aufgeführt, die es in den nächsten Jahren zu fördern gilt. Auf die konkreten Fördermaßnahmen darf man gespannt sein. Um die deutsche Biotechnologie gezielt fördern zu können, sollte man sich auf Politikerebene zuerst klar werden, dass in der Biotechnologie Kapitalbedarf, Entwicklungszeiten und Entwicklungsrisiko sehr speziell und nicht vergleichbar sind mit e-Commerce, FinTech oder anderen Branchen und es daher spezieller, auf die Biotechnologie abgestimmter Fördermaßnahmen bedarf, um den Biotechnologie-Standort Deutschland effektiv und langfristig zu stärken.
Autor Michael H. Thiel geht im weiteren Teil seines Beitrages auf diese Besonderheiten näher ein, insbesondere auf die Situation der Frühphasenfinanzierung und den notwendigen Kapitalbedarf in der Wachstumsphase. Dies sowie seine Schlussfolgerungen aus der Betrachtung von 40 Jahren Biotechnologie-Industrieentwicklung in Deutschland findet sich im ungekürzten Gesamtartikel, den wir als PDF inklusive aller Grafiken und Tabellen hier verfügbar machen.
Kontakt zum Autor: michael.thiel@sanemus.com